Jahrelang hielten die britischen Muslime loyal zur Labour-Partei, nun setzen sie die Parteileitung wegen ihrer Haltung im Nahost-Konflikt unter Druck. Besuch in einem Wahlkreis in der Stadt Leicester, wo die Muslime die grösste Wählergruppe stellen.
Der Kachelofen hat die Kälte aus dem Wohnzimmer vertrieben. Trotzdem schiebt Abid Matak noch einmal zwei Holzscheite ins Feuer, bevor er es sich auf dem flauschigen Teppich bequem macht. Wie so oft hat der 51-jährige Immobilienunternehmer auch an diesem Herbstabend Besuch vom 53-jährigen Sabbir Hafegee und dem 41-jährigen Suly Kasu, die auf dem Sofa und auf einem Lehnstuhl Platz genommen haben.
Die drei Männer sind als Kinder muslimischer Inder in der englischen Stadt Leicester geboren und aufgewachsen und kennen sich seit Jugendzeiten. Bis heute debattieren die Freunde gerne über Gott und die Welt, wobei momentan der Gazakrieg alle Gespräche dominiert.
Über die Social-Media-Applikationen der Mobiltelefone dringen Nachrichten aus Gaza ins Wohnzimmer. Das Leid der Bevölkerung erschüttert die drei Männer. «Was die Hamas getan hat, kann doch keine Bomben auf Zivilisten rechtfertigen», sagt Sabbir Hafegee. «Ein Unrecht hebt das andere nicht auf!»
Muslime als grösste Wählergruppe
Fast so empört wie über das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza sind die Muslime über die Reaktionen der britischen Politik. Nicht nur die konservative Regierung stellte sich klar hinter Israel, sondern auch die Labour-Opposition. «Wir haben Labour immer unterstützt, nun fühlt es sich an wie ein Schlag ins Gesicht», sagt Suly Kasu.
Leicester South gehört zu den etwa dreissig britischen Wahlkreisen, in denen die Muslime eine relative Mehrheit der Wähler stellen. Besonders gross ist der muslimische Bevölkerungsanteil in Quartieren wie Highfields oder Stoneygate, wo Matak und seine Freunde wohnen.
Leicester
Rund 80 Prozent der britischen Musliminnen und Muslime wählen Labour, was sie nach den Lehrern zur loyalsten Wählergruppe der Sozialdemokraten macht. Es überrascht daher nicht, dass der gut 128 000 Einwohner zählende Bezirk Leicester South zu den Labour-Hochburgen gehört.
Der Grossteil der Muslime in Stoneygate und Highfields hat Wurzeln in Indien, Pakistan oder Bangladesh. Viele sind in Grossbritannien geboren oder leben seit Jahrzehnten im Land. Das Strassenbild des Arbeiterquartiers mit seinen Reihenhäuschen, kleinen Läden und Imbissbuden ist südasiatisch geprägt. Etliche Männer tragen einen Bart und einen Kaftan, während viele Frauen mit einem Schleier ihr Haar oder ihr Gesicht verhüllen.
Abid Matak kennt Leicester wie seine Westentasche. Bei Wind und Wetter sei er in den letzten zwanzig Jahren in jedem Wahlkampf von Haus zu Haus gezogen, um für Labour Wähler zu mobilisieren und Flyer zu verteilen. Wenn Labour die Position zum Gazakrieg nicht ändere, sei er dazu aber nicht mehr bereit, sagt der Aktivist bestimmt.
Vorerst versucht er, Druck auf die Parteileitung auszuüben. Er hat Jon Ashworth, der Leicester South im Unterhaus vertritt und im Schattenkabinett sitzt, unzählige E-Mails geschrieben und ihn an internen Sitzungen zur Rede gestellt. Mataks Forderung: Die Labour-Führung soll sich öffentlich hinter einen Waffenstillstand in Gaza stellen.
Starmers Autorität bröckelt
Leicester ist kein Einzelfall. Im Nachgang des 7. Oktobers ist eine Welle der Empörung muslimischer Wähler und Aktivisten über die Labour-Partei hereingebrochen. Der Vorsitzende Keir Starmer, der am Parteitag Anfang Oktober noch auf dem Zenit seiner internen Macht zu stehen schien, steht auf einmal unter Druck.
In seinem Bemühen, sich von seinem altlinken Vorgänger Jeremy Corbyn abzugrenzen, sprach Starmer nach den Terroranschlägen vom 7. Oktober Israel ein bedingungsloses Selbstverteidigungsrecht zu. Dabei billigte er auch, dass Israel den Gazastreifen von der Strom- und Wasserversorgung abschnitt. Dass er diese Position zehn Tage später etwas relativierte, war aus Sicht vieler Muslime ein zu kleiner Schritt, der zu spät erfolgte.
Um staatsmännisch zu wirken, orientiert sich Starmer an der Position des amerikanischen Präsidenten Joe Biden. Daher plädiert er in Gaza für «humanitäre Pausen», aber nicht für einen Waffenstillstand, der die von der Hamas ausgehende Bedrohung nicht beseitigen würde.
Doch je länger der Krieg dauert, desto mehr bröckelt Starmers Autorität. Dutzende Unterhausabgeordnete und Mitglieder des Schattenkabinetts sprechen sich mittlerweile für einen Waffenstillstand aus. Ein Schattenminister ist jüngst aus Protest zurückgetreten. Rund 50 altlinke, aber auch moderate Lokalpolitiker haben ihr Amt niedergelegt und werfen Starmer Doppelmoral vor.
In Labour-Kreisen kursieren Videos, in denen Starmer Putins Aktionen in der Ukraine spontan als Kriegsverbrechen verurteilt. Derweil erklärt er zu Israels Vorgehen in Gaza, man dürfe bei mutmasslichen Verletzungen des Kriegsvölkerrechts nie vorschnelle Urteile fällen.
NEW: Entire Leicester City Council Labour group has unanimously called upon party leaders, including Keir Starmer, to call for a ceasefire and the end of collective punishment in Gaza. This after senior members including David Lammy held talks with them to address their concerns pic.twitter.com/Aro2E3JlZn
— Darshna Soni (@darshnasoni) October 24, 2023
Rebellion im Gemeinderat
Die Labour-Gemeinderäte von Leicester gehörten zu den Ersten, die mit einem offenen Brief gegen Starmer rebellierten. Dass die Lokalpolitiker in der Aussenpolitik mitmischen, anstatt sich um die Abfallentsorgung oder den Betrieb von Sozialwohnungen zu kümmern, begründet der Gemeinderat Raffiq Moosa Mohammed mit der Stimmung der Wähler, welche die Volksvertreter aufgreifen müssten. «Die Empörung unter den Muslimen ist noch grösser als 2003 beim Irak-Krieg», sagt der Labour-Politiker.
Dass Palästina auch nichtarabische Muslime tief aufwühlt, erklärt Moosa mit der spirituellen Bedeutung des Landes und der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem für den Islam. «Die Leute sind aufgebracht», sagt Moosa. Während des Irak-Kriegs hätten die «Mainstream-Medien» die Narrative noch kontrolliert. Heute aber hielten viele Wähler die BBC und die etablierte Presse für befangen und informierten sich nur noch über die sozialen Netzwerke.
Moosa sitzt im Café Marian im Quartier Highfields, dessen Bevölkerung er im Gemeinderat von Leicester vertritt. An den kleinen Tischen trinken ein Dutzend bärtiger Männer mit indischen, bangalischen oder pakistanischen Wurzeln Tee, während am Fernsehen ein Cricketspiel läuft. Immer wieder begrüsst Mohammed neue Kunden auf Englisch oder Urdu. Manche tragen Pins oder Aufkleber mit der Aufschrift «Free Palestine».
Moosa glaubt, dass die Israelpolitik der Labour-Partei den möglichen Sieg bei der wohl im kommenden Herbst stattfindenden Unterhauswahl kosten könnte. In England und Wales leben knapp 3,9 Millionen Muslime, was etwa 6,5 Prozent der gesamten Bevölkerung entspricht. In Leicester South aber identifiziert sich rund ein Drittel der Bevölkerung mit dem muslimischen Glauben. Das sind deutlich mehr als jeweils Atheisten und Christen, die zusammengezählt weniger als die Hälfte der Bevölkerung stellen.
Muslime sind im Süden Leicesters in der Mehrheit
Bevölkerungsanteil nach Religion in Prozent (Volkszählung 2021)
Sollten sich die Muslime geschlossen von Labour abwenden, könnte dies die Partei in Dutzenden von Wahlkreisen den Parlamentssitz kosten, argumentiert Moosa. Bereits bringen sich linkspopulistische Kandidaten in Stellung, um von der Enttäuschung über Labour zu profitieren.
Auf Stimmen hoffen auch die Liberaldemokraten und die Grünen, viele Muslime könnten aber auch aus Protest einfach zu Hause bleiben. Bei der Labour-Führung in Westminster spekuliert man angesichts des Umfragevorsprungs von bis zu 20 Prozentpunkten auf die Tory-Partei darauf, allfällige Verluste in muslimisch geprägten Wahlkreisen mit Sitzgewinnen in konservativen Gegenden kompensieren zu können.
Labour hat die Tories in den Umfragen distanziert
Wahlabsicht bei der Unterhauswahl, in Prozent der Befragten, gewichteter Durchschnitt
Stadt der «Super-Diversität»
Der hohe Anteil von Muslimen in Leicester geht auf den Zusammenbruch des britischen Empires zurück. Nach der Unabhängigkeit verjagten die Regierungen ehemaliger Kolonialgebiete in Ostafrika in den sechziger Jahren asiatische Einwohner, die während der britischen Herrschaft aus dem indischen Subkontinent eingewandert waren.
Die Regierung in London fühlte sich für das Schicksal der Vertriebenen verantwortlich und öffnete ihnen Migrationsrouten nach Grossbritannien. Die Stadt Leicester, die vor dem Zweiten Weltkrieg dank der Schuhwaren- und Textilindustrie zu Reichtum gekommen war, wurde zu einem der grössten Magnete für südasiatische Flüchtlinge.
Die neuen Gemeinschaften zogen weitere Migranten aus Indien, Pakistan oder Bangladesh an, dazu kamen Zuwanderer aus Polen oder Somalia. 2011 avancierte Leicester zur ersten britischen Stadt, in der sich in der Volkszählung weniger als die Hälfte der Einwohner als «weisse Briten» bezeichneten. 2021 gehörten fast 60 Prozent einer ethnischen Minderheit an. In den Medien war von «Super-Diversität» oder einer «Mehrheit aus Minderheiten» die Rede.
Das multikulturelle Nebeneinander der 357 000 Einwohner verläuft grösstenteils friedlich. Doch wenn Ereignisse wie der Gazakrieg die Identitätspolitik befeuern, steigen die Spannungen. Eine alte Fabrik dient als Hauptquartier des Vereins «Freunde der al-Aksa», der zum Boykott Israels aufruft und im ganzen Land propalästinensische Kundgebungen mitorganisiert. Zwischen Kisten mit Flugblättern und Transparenten erklärt ein Sprecher des Vereins, in Grossbritannien werde heute beinahe schon als Terrorist gebrandmarkt, wer von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch mache und sich für Frieden und Solidarität mit den Palästinensern einsetze.
Unweit der Fabrik befindet sich die Synagoge der hebräischen Kongregation von Leicester. Das einst von osteuropäischen Migranten errichtete Gotteshaus befindet sich mitten in einer muslimisch geprägten Nachbarschaft. Öffentlich äussern will sich kein Vertreter der jüdischen Gemeinschaft – aus Angst vor Repressalien. Die in Grossbritannien seit dem 7. Oktober registrierte Zunahme antisemitischer Vorfälle sorge auch in Leicester für Nervosität, sagt ein jüdischer Mann, wobei es bisher nicht zu schwerwiegenden Übergriffen gekommen sei.
Fehde zwischen Hindus und Muslimen
Vor einem Jahr geriet Leicester wegen Strassenschlachten zwischen Hindus und Muslimen in die Schlagzeilen. Zu hören ist, die Feierlichkeiten nach dem Cricket-Sieg Indiens über Pakistan beim Asia Cup seien ausgeartet. Die Rede ist aber auch von einem muslimischen Jungen, der von einer Gang von Hindus zusammengeschlagen worden sei. Erwiesen ist, dass ausländische Profile in den sozialen Netzwerken die Spannungen mit Desinformation und nationalistischer Hetze zusätzlich befeuerten.
Die Ausschreitungen haben auch Abid Matak und seine Freunde im Wohnzimmer aufgerüttelt. Sie sagen, die Gewalt sei nicht von den Alteingesessenen ausgegangen, sondern von neuen, vor allem hinduistischen Migranten. «Sie haben die Hindutva-Ideologie nach Grossbritannien getragen», sagt Matak mit Verweis auf die Politik der Hindu-Nationalisten, die Muslime und Sikhs in Indien der hinduistischen Kultur unterwerfen wollen.
Inzwischen hat ein Sohn von Matak Tee und Gebäck aufgetragen, an dem die Männer nachdenklich kauen. «Muslime werden in China, Myanmar und Indien verfolgt, die Massaker in Bosnien liegen nicht weit zurück», bricht Sabbir Hafegee das Schweigen. In Palästina erreiche die Ungerechtigkeit gegen die Muslime eine neue Dimension. Das Narrativ lässt wenig Raum für Empathie mit israelischen Opfern oder eine klare Abgrenzung vom Hamas-Terror. «Was mit den Palästinensern geschieht, ist unmenschlich», sagt er umso bestimmter. «Ich bin schockiert, dass britische Politiker das unterstützen.»
Author: Christopher Davis
Last Updated: 1703283122
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